Als Ausgangspunkt der Volksbewegungen in den arabischen Ländern steht Tunesien unter internationaler Beobachtung:
Gelingt es dem Land, die Konfrontation zu überwinden und ein politisch wie wirtschaftlich stabiles Gemeinwesen aufzubauen? ­Credimundi stellt dem nordafrikanischen Land vor den diesjährigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ein relativ gutes Zeugnis aus, warnt aber vor den innenpolitischen Folgen von Arbeitslosigkeit und Inflation.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Credimundi, Member of the Credendo Group

Nach dem Sturz des autokratisch regierenden Präsidenten Ben Ali Anfang 2011 hat sich der Prozess der politischen Transformation in Tunesien trotz zeitweise schwerwiegender Turbulenzen stetig fortgesetzt. Anfang 2014 ist es dem Land gelungen, die im vergangenen Jahr immer größer werdenden politischen Spannungen durch die Verabschiedung einer neuen Verfassung und die Vereidigung einer Übergangsregierung zu verringern. Für Ende 2014 sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen angesetzt.

Die Revolution und die darauffolgende politische Transformation haben das politische Risiko wesentlich beeinflusst und bringen große Herausforderungen für Tunesien mit sich. Dank der soliden ma-kroökonomischen Rahmenbedingungen vor der Revolution hatten diese Entwicklungen im Großen und Ganzen aber kaum Auswirkungen auf die Klassifizierung des politischen Risikos.

Das steigende Leistungsbilanzdefizit und die geringen ausländischen Direktinvestitionen hatten zwar in den vergangenen Jahren Auswirkungen auf die Liquidität und die Auslandsverschuldung des Landes, bewegen sich aber dennoch auf einem beherrschbaren Niveau. Darüber hinaus haben Tunesien und der Interna­tionale Währungsfonds (IWF) im Juni vergangenen Jahres ein Abkommen für einen Stand-by-Kredit vereinbart. Das Land kann also auf multilaterale und ­bilaterale Fi-nanzhilfen zählen und somit den drängendsten Finanzierungsbedarf abdecken.

Das systemische Geschäftsrisiko – das Auskunft darüber gibt, in welchem Geschäftsumfeld tunesische Unternehmen operieren – wird durch die bestehende Unsicherheit, eine unter dem Potential liegende Wachstumsrate und eine Verlangsamung des Kreditwachstums (insbesondere in den Bereichen Tourismus, Kommunikationswirtschaft und Transportwesen) negativ beeinflusst. In den vergangenen Jahren waren die Zahlungserfahrungen der Credendo Group mit tunesischen Kreditnehmern sehr wechselhaft – insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2013 nahmen die Zahlungsrückstände deutlich zu. In den vergangenen Monaten haben sich die Zahlungserfahrungen jedoch wieder deutlich verbessert.

Die seit diesem Jahr wieder zunehmende politische Stabilität dürfte das Vertrauen im Land wiederherstellen und sich positiv auf die finanzielle und wirtschaftliche Situation auswirken. Doch nach wie vor sind gewisse Risiken allgegenwärtig. Sowohl die derzeitige als auch die künftigen (gewählten) Regierungen stehen vor großen Herausforderungen – etwa der Verringerung der Haushalts- und Zahlungsbilanzdefizite, der Schaffung neuer Arbeitsplätze und eines breitangelegten Wachstums, sowie der Verbesserung der Sicherheitslage.

Nach Überwindung der Rezession im Jahr 2011 erholte sich die Wirtschaft 2012, doch das BIP-Wachstum schwächte sich im vergangenen Jahr wieder auf 2,6% ab. Dieser Wert liegt deutlich unter dem jahresdurchschnittlichen Wachstum in Höhe von 4,4%, das Tunesien im Zeitraum 2000 bis 2010 erreicht hatte. Auf der Angebotsseite trugen die schlechten Ernten und die Produktionsausfälle im Bergbausektor zur Wachstumsschwäche bei. Auf der Nachfrageseite waren der Einbruch der staatlichen Investitionen sowie die Rezession in der Euro-Zone, Tunesiens wichtigstem Exportmarkt, die Hauptgründe für das schwache Ergebnis.

Mit dem Ende der chaotischen Zustände im Jahr 2013 dürfte sich das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr etwas beschleunigen. Es wird vor allem durch das gestiegene Vertrauen der Investoren und Touristen angekurbelt. Allerdings ist dieses Vertrauen abhängig von der weiteren Entwicklung der Sicherheitslage und der politischen Stabilität. Es dürfte mindestens bis 2016 dauern, bis das Wirtschaftswachstum wieder sein langfristiges Durchschnittsniveau erreicht hat. Und auch dann bleibt es fraglich, ob das Wachstum ausreichend ist, um die Arbeitslosigkeit zu verringern und die neuen Arbeitskräfte, die in den nächsten Jahren auf den Markt drängen, zu absorbieren. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 15% – im Segment der gut ausgebildeten Akademiker kann sie mehr als 30% erreichen. Die hohe Arbeitslosigkeit bedroht die politische Stabilität des Landes, da sie zusammen mit der sozialen Ungleichheit Hauptgrund der Proteste gegen den früheren Staatspräsidenten Ben Ali Anfang 2011 war.

Die Inflation ist eine weitere Ursache für die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Sie bewegte sich 2013 mit 6% weiterhin auf hohem Niveau (in den Jahren 2000 bis 2010 lag sie durchschnittlich bei 3,3%); die Nahrungsmittelpreise erhöhten sich noch stärker. Im April 2014 hat sich der Preisauftrieb auf eine Jahresrate von 5,1% etwas abgeschwächt. Sowohl die Erhöhung der Leitzinsen durch die Zentralbank als auch geringere Nahrungsmittelpreissteigerungen trugen hierzu bei.

Das schwierige politische und wirtschaftliche Umfeld der vergangenen Jahre sorgte für wachsende Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizite. Weil Tunesiens Importe kräftiger zulegten als die Exporte, erhöhte sich das Leistungsbilanzdefizit stetig von 5% des BIP im Jahr 2010 auf über 8% des BIP im vergangenen Jahr. Die Erlöse aus dem Tourismussektor lagen im vergangenen Jahr 20% unter dem Niveau von 2010 und fast 30% unter dem Rekordwert, der 2008 erreicht wurde. Dies war eine Folge der schwachen Nachfrage aus Europa. Die Importe stiegen dagegen aufgrund der zunehmenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Energie. Die Nettoenergieimporte haben sich zwischen 2010 und 2013 fast verfünffacht, ein Ergebnis des gestiegenen Energie- konsums bei gleichzeitig sinkender Gas- und Ölproduktion und unzureichenden Raffineriekapazitäten auf dem Heimatmarkt.

Die Leistungsbilanz wird sich voraussichtlich im laufenden Jahr verbessern. Die konjunkturelle Belebung im Euro-Raum (insbesondere in Frankreich und Italien, den für Tunesien wichtigsten Exportmärkten) wird der Nachfrage nach tunesischen Produkten Impulse verleihen. Hinzu kommt, dass die politische Stabilisierung in Tunesien den Tourismuseinnahmen und Heimatüberweisungen der im Ausland lebenden Tunesier wieder Auftrieb verleihen wird. Das Leistungsbilanzdefizit dürfte sich auch in den nächsten Jahren weiter verringern, doch es wird deutlich über dem im Zeitraum 2000 bis 2010 erreichten Durchschnittswert von 3% des BIP verharren.

Auch die Lage der Staatsfinanzen hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. 2013 erhöhten sich die Staatsaus­gaben um 50% gegenüber 2010 und erreichten 30% des BIP. Der Großteil dieses Zuwachses ist auf Lohnerhöhungen für Staatsangestellte (die Steigerung betrug 40% gegenüber 2010) sowie gestiegene Transferzahlungen und Subventionen (die sich für Nahrungsmittel und Energie mehr als verdoppelt haben) zurückzuführen. Die Ausgabensteigerungen waren eine Antwort auf die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen der Bevölkerung während der Revolution. Obwohl die Steuereinnahmen auch zulegten, reichten sie nicht aus, um das Haushaltsdefizit einzudämmen. Folglich stieg dieses im Zeitraum 2010 bis 2013 von 0,5% auf 6% des BIP. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wurden noch für dieses Jahr das Einfrieren der Löhne und eine Reform der Energiesubventionen angekündigt. So dürften die Strom- und Benzinpreise steigen, aber für die niedrigen Einkommen sollen Subventionen beibehalten werden. Ungeachtet dessen wird das Haushaltsdefizit voraussichtlich in diesem Jahr weiter steigen. Die Staatsverschuldung dürfte Ende dieses Jahres auf 50% des BIP (gegenüber 40% im Jahr 2010) klettern.

Die ausführliche Länderstudie Tunesien steht unter www.credendogroup.com zum kostenlosen Download bereit.

Kontakt: c.witte[at]credendogroup.com

18 replies on “Tunesien kommt langsam auf die Beine”

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