Im Gegensatz zu anderen BRICS-Staaten erfreut sich Indien guter kurzfristiger Konjunkturaussichten: Die wirtschaftlichen Bedingungen sind dank des starken Rückgangs des Ölpreises günstig, das Vertrauen der Investoren hat zugenommen, und im vergangenen Jahr wurde eine reformorientierte Regierung gewählt. Mittel- bis langfristig sind die Aussichten jedoch getrübt: Indien sieht sich mit strukturellen Wachstumshindernissen und einer schwachen öffentlichen Finanzlage konfrontiert.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Credimundi, Member of the Credendo Group

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Für eine dauerhafte ma­kroökonomische Stabilität und langfristiges Wachstum sind eine erfolgreiche Reform­agenda sowie ein nachhaltiger Ausbau der In­frastruktur unbedingte Voraussetzung. Mit einem klaren Mandat, einer gestärkten Zahlungsbilanz und einem Rückgang der Inflation aufgrund niedriger Rohstoffpreise hat Premierminister Modi den nötigen Handlungsspielraum für die Förderung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Dazu wurden Finanzreformen angekündigt und Pläne zur Erhöhung öffentlicher Entwicklungsausgaben erarbeitet. Zudem dürften dringend notwendige Investitionen durch politische Stabilität und Vertrauen erleichtert werden. Auch der Abbau von Subventionen und eine geldpolitische Lockerung sind bei niedrigen Rohstoffpreisen möglich.

Indien sieht sich mit strukturellen Wachstumshindernissen und einer schwachen öffentlichen Finanzlage konfrontiert, während bei einer Erholung des Ölpreises ein Anstieg der Inflation droht. Eine weitere Schwäche liegt in der Anfälligkeit für Kapitalflucht im Zusammenhang mit der Straffung der Geldpolitik in den USA. In der Folge könnte der Abwertungsdruck auf die Indische Rupie erneut ansteigen, was zur Verteuerung der Tilgung steigender – aber immer noch akzeptabler – Auslandsschulden von Unternehmen führen würde. Lokale Widerstände gegen Veränderungen sowie das empfindliche Gleichgewicht in Indiens heterogener Gesellschaft machen die zu bewältigende Aufgabe zu einem extrem komplexen Unterfangen. Deswegen dürfte Indiens größte Herausforderung in der erfolgreichen Umsetzung von Reformen bestehen.

Die liberale Politik und der wachstums- und reformorientierte Wahlkampf von Premierminister Modi wirken sich positiv auf das Geschäftsklima aus. Die Wirtschaftsdynamik hat seit den Parlamentswahlen deutlich zugenommen, und dieser Trend wird sich voraussichtlich fortsetzen. Auf diese Weise kann Indien bis zum Ende des Jahres das langsamer wachsende China als am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt ablösen. Nachdem das Wirtschaftswachstum 2012 auf 4,5% zurückgegangen war, lag es 2014/15 bei geschätzten 7,2% und dürfte im kommenden Haushaltsjahr auf 7,5% steigen. Diese Angaben zum indischen Wirtschaftswachstum berücksichtigen die methodischen Anpassungen durch das zentrale Statistikamt, aufgrund derer die Daten nach oben korrigiert wurden. Angesichts der Differenz zu den vorherigen offiziellen Angaben wird diese Aktualisierung allerdings kritisch gesehen und weniger als tatsächlicher Spiegel erheblicher Verbesserungen der Realwirtschaft Indiens, sondern mehr als statistisches Phänomen betrachtet.

Die indische Wirtschaft profitiert von einem günstigeren Wirtschaftsumfeld im In- und Ausland. Mit hohen Kraftstoffimporten (35% der eingeführten Güter) gehört Indien zu den weltweit größten Profiteuren des dramatisch zurückgegangenen Ölpreises, und auch die Erholung der Nachfrage aus den USA und der EU kommt dem Land zugute. Dass diese Faktoren unmittelbar nach Modis Wahl ihre Auswirkungen zeigen, ist für ihn von erheblichem Vorteil, da sie Wachstum stimulieren und die Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen wie die Kürzung der Kraftstoffsubventionen leichter machen. Vor dem Hintergrund zurückgegangener Goldimporte – Ergebnis entsprechender Restriktionen, die Ende des vergangenen Jahres aufgehoben wurden – und eines leichten Wachstums des Exportsektors ist das Leistungsbilanzdefizit von 4,7% des BIP im Zeitraum 2012/2013 auf nunmehr weniger als 2% gesunken. Auch in Zukunft dürfte das Defizit in diesem Bereich liegen und sich folglich durch Direktinvestitionen finanzieren lassen. Letztere dürften während der Regierungszeit Modis deutlich zunehmen, zumal erwartet wird, dass Obergrenzen für ausländische Beteiligungen in mehreren Branchen gelockert werden. Eine der positiven Folgen ist, dass der Abwärtstrend bei den Währungsreserven umgekehrt wurde: Die Reserven decken heute mehr als sechs Monatsimporte ab.

Trotz der gestärkten Zahlungsbilanz ist Indien nicht immun gegen globale Kapitalschwankungen, insbesondere vor dem Hintergrund der bevorstehenden Straffung der Geldpolitik in den USA. Tatsächlich hatte der im Frühling 2013 von der Fed angekündigte Ausstieg aus der Politik der monetären Lockerung zu erheblichen Kapitalabflüssen geführt und eine ex­treme Abwertung der Rupie gegenüber dem US-Dollar auf ein Rekordtief zur Folge gehabt (–23% im Zeitraum Mai–August). Während zu jenem Zeitpunkt jedoch ein Klima der allgemeinen politischen Lähmung vorherrschte, haben sich die innenpolitischen Rahmenbedingungen inzwischen komplett gewandelt: Premierminister Modi hat ein starkes Mandat, das Vertrauen ist zurückgekehrt, die Wirtschaftsprognosen haben sich verbessert, und in der Folge hat sich die Rupie trotz eines gestärkten US-Dollar leicht erholt (+6%). Daher dürfte der Abwertungsdruck auch bei erneuten Schwankungen gering bleiben.

Infolge der niedrigen Rohstoffpreise ist die Inflation rasch auf 5% gesunken, den niedrigsten Wert seit acht Jahren. Zur Gewährleistung hoher Preisstabilität und dauerhaft niedriger Verbraucherpreise hat die Regierung die indische Notenbank Reserve Bank of India (RBI) mit der Inflationssteuerung beauftragt (mit einer mittelfristigen Rate von 4% und einer Schwankungsbreite von 2%). Die RBI lockert nun mit der Senkung des Leitzinses – zuletzt auf 7% – ihre Geldpolitik. Mit dieser Maßnahme sollen Konsum und Investitionen gefördert werden, die von hohen Zinssätzen behindert werden. Eine mittelfristige Erholung des Ölpreises sowie höhere Nahrungsmittelpreise im Falle eines schlechten Monsunjahres sind die beiden Hauptrisiken im Zusammenhang mit der Inflationsprognose. Daher steht Neu-Delhi vor der Aufgabe, die strukturell hohe Inflation zu bekämpfen, die teils auf der ineffektiven Lagerung und Verteilung von Nahrungsmitteln beruht.

Der kürzlich vorgestellte Haushalt für 2015, der erste vollständige Haushaltsplan der neuen Regierung, geht in die richtige Richtung. Er setzt auf eine Steigerung des Wirtschaftswachstums und führt dabei die Haushaltskonsolidierung fort, wenn auch in geringerem Tempo. Die Regierung plant eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in die Bereiche Transport und Stromerzeugung – zwei chronische Hindernisse für die Wirtschaftsentwicklung. Das Finanzreformprogramm sieht eine umfassende Rationalisierung der Subventionen (die bereits zum Ende der Amtszeit des vorherigen Premierministers Singh begonnen hatte) sowie des Steuersystems vor. Mehrere Steuern werden abgeschafft und durch eine landesweite Steuer auf Güter und Dienstleistungen ersetzt. Vor dem Hintergrund eines starken Rückgangs des Ölpreises hat die Regierung im vergangenen Oktober beschlossen, Dieselsubventionen abzuschaffen und die Inlandspreise an den Markt anzupassen. Der Anteil von Kraftstoff-, Nahrungsmittel- und Düngersubventionen am BIP belief sich im vergangenen Jahr auf 2,2%. Die Regierung möchte diesen Wert zum Haushaltsjahr 2016/17 auf 1,6% reduzieren und die Subventionen durch direkte Transferzahlungen an arme Bevölkerungsgruppen ersetzen. Außerdem wurde eine allmähliche Senkung der Körperschaftsteuer von 30% auf 25% angekündigt.

Diese Maßnahmen dürften einen positiven Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten, aber gleichzeitig die Haushaltsanpassung verzögern. Folglich werden das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit und die öffentliche Schuldenquote, die im Zeitraum 2015/16 bei jeweils 6,8% und 62,6% des BIP liegen dürften, weiter langsam zunehmen. Bereits mehrere aufeinanderfolgende Regierungen haben sich zur Reduzierung der Staatsverschuldung verpflichtet, die vor zehn Jahren bei 85% des BIP lag. Zinsaufwendungen machen jedoch nach wie vor 25% der Haushaltseinnahmen aus. Mittelfristig sind daher weitere und anhaltende Anstrengungen erforderlich, um finanzpolitischen Spielraum und zusätzliche Möglichkeiten für Konjunkturprogramme zu schaffen. Ebenso sollte eine entsprechende Geldpolitik umgesetzt werden. Risiken in Bezug auf die Schuldenbelastbarkeit werden jedoch dadurch abgemildert, dass die Staatsverschuldung primär auf das Inland beschränkt ist und die Auslandsverschuldung (einschl. privater Schulden) dank der starken Wirtschaftsleistung unter 25% des BIP bleiben dürfte.

Obwohl die Anlegerstimmung seit dem Wahlsieg des reformorientierten Premierministers Modi optimistisch ist, halten sich konkrete Erfolge bisher in Grenzen. Es scheint, als habe Modi sich angesichts der beträchtlichen Herausforderungen und der politischen Hindernisse bei der Umsetzung langerwarteter Reformen gegen ein Hauruckverfahren und vielmehr für eine sukzessive Vorgehensweise entschieden. Unter den Gesetzen, die die Regierung überarbeiten möchte, ist das Landerwerbsgesetz eines der heikelsten. Es steht symbolisch für die Herausforderungen, mit denen Indien sich bei der Beschleunigung seiner Entwicklung und der Umsetzung der „Make in India“-Strategie konfrontiert sieht. Die Erreichung dieses letzten Zieles erfordert eine Vereinfachung des Gesetzes, das sehr restriktiv ist und den Zugang zu Land für wirtschaftliche Zwecke erschwert. Gleichzeitig handelt es sich um ein äußerst umstrittenes Thema, da die Mehrheit der indischen Bevölkerung sehr arm ist, auf dem Lande lebt und um ihre Existenz fürchten muss. Aufgrund der Proteste aus der Landwirtschaft und der Oppositionsmehrheit im Oberhaus kann es sein, dass die BJP die Gesetzesänderung erst nach den Oberhauswahlen im Jahr 2016 durchsetzen kann. Mit Ausnahme der kürzlich genehmigten Änderung des Versicherungsgesetzes, das die Obergrenze für ausländische Investitionen in indische Unternehmen von 26% auf 49% anhebt, stoßen Modis weitere Reformpläne (u.a. in den Bereichen Arbeit und Finanzen) auf erheblichen Widerstand.

Die schwere Niederlage der BJP bei den Regionalwahlen in Delhi könnte Anlass für eine behutsamere Herangehensweise sein. Ein Scheitern bei der Verabschiedung neuer Gesetze würde Investoren das Signal geben, dass die Geschäfts- und Infrastrukturentwicklung nach wie vor von politischen und strukturellen Hürden behindert wird. Ob Indien in den kommenden Jahren sein wirtschaftliches Potential besser ausschöpfen kann, wird auch von Modis Reformwillen abhängen, der bei der Risikobewertung derzeit noch als ausgleichender Faktor gesehen wird.

Die ausführliche Länderstudie Indien steht zum kostenlosen Download unter www.credimundi.de bereit.

Kontakt: c.witte[at]credendogroup.com

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