Tunesiens politische Entwicklung seit der Revolution von 2011 gilt im Westen als vorbildlich. Die Demokratie ist gefestigt, das Land verfügt über eine gute Infrastruktur und eine diversifizierte Wirtschaft. Terroranschläge haben jedoch zu einer erheblichen Verunsicherung geführt. Das Land plant – mit westlicher Unterstützung – erhebliche Investitionen. Die Wirtschaft soll stärker ­wachsen und die regional sehr hohe Arbeitslosigkeit bekämpft werden.

Von Ingo D. Tuchnitz, Vice President, International Banking Sales, BHF-BANK

Beitrag als PDF (Download)

Mit der Annahme einer neuen, demokratischen Verfassung gelang Tunesien nach dem Arabischen Frühling als einzigem Land der Region der Übergang zur Demokratie. Zuletzt war die innenpolitische Lage jedoch angespannt. Terroranschläge verunsichern die Bevölkerung und schrecken ausländische Investoren und Touristen ab. Die hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Menschen sowie regional besonders im Süden und Westen des Landes führt zu Unzufriedenheit. Viele drängen auf die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation. Unter Staatspräsident Beji Caid Essebsi und Youssef Chahed, der seit August 2016 als neuer Premierminister die tunesische Regierung führt, wird neuer Reformwille sichtbar, der sich langfristig positiv auswirken dürfte. Die neue Regierung will die Wirtschaft weiter öffnen, Investitionen fördern, Subventionen senken und die Personalkosten in den Behörden reduzieren.

Vielfältige Wirtschaftsstruktur

Tunesien ist in die Weltwirtschaft eingebunden und wirtschaftlich stark auf die Europäische Union ausgerichtet. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2016 nach vorläufigen Zahlen 42,3 Mrd USD – was recht genau dem Sloweniens entspricht. Das BIP pro Kopf von etwa 3.800 USD ist mit dem von Vietnam vergleichbar. Weite Teile Tunesiens sind von Wüsten und Halbwüsten bedeckt. Zwei Millionen der insgesamt gut 11 Millionen Tunesier leben im Umfeld der Hauptstadt Tunis. Die Bevölkerungszahl wächst mit knapp 1% pro Jahr, was für europäische Verhältnisse immens ist, für den arabischen Raum jedoch die niedrigste Wachstumsrate überhaupt darstellt. Das Land verfügt über qualifizierte Arbeitskräfte und marktwirtschaftliche Strukturen. Lediglich die Energie- und Wasserversorgung, der öffentliche Nahverkehr und die Post sind in staatlicher Hand. Der Telekommunikationssektor wurde in den vergangenen zehn Jahren schrittweise liberalisiert.

Die Wirtschaftsstruktur Tunesiens ist vielfältiger als die der meisten anderen, vor allem auf Rohstoffexporte ausgerichteten Staaten Nordafrikas. Der Export von Rohstoffen spielt für Tunesien nur eine untergeordnete Rolle, die Erdölförderung aus eigenen Quellen genügt lediglich, um einen Teil des eigenen Bedarfs zu decken. Der Dienstleistungssektor, in dem rund die Hälfte aller Erwerbstätigen beschäftigt ist, hat für die tunesische Wirtschaft die größte Bedeutung. Vor allem der Tourismus ist für das Land wichtig, im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie dem Kunstgewerbe arbeiten Hundertausende Tunesier. Die Terroranschläge der vergangenen Jahre haben das Land deshalb auch in ökonomischer Hinsicht empfindlich getroffen, denn die Zahl ausländischer Besucher, vor allem aus Europa, ist erheblich gesunken. Viele Hotels mussten zeitweilig schließen. Ein weiterer wichtiger Dienstleistungszweig sind nach Tunesien ausgelagerte IT-Abteilungen und Callcenter französischer Unternehmen.

In Tunesien entwickelt sich eine sehr aktive Start-up-Szene, nicht zuletzt auch aufgrund der guten Universitäten vor Ort. Diese Szene ist vor allem in den Bereichen IT und Internet aktiv. Die Idee ist, sich als eine Art Silicon Valley für Europa anzubieten. Die Westerwelle Foundation hat hier ihr bisher größtes ausländisches Engagement mit dem Startup House in Tunis, das sehr gut angenommen wurde und jungen Start-ups eine Bleibe sowie technische Infrastruktur bietet, bis sie sich etabliert haben.

Rund ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitet in der Industrie und hier vor allem in der Textil- und Lederwarenbranche. Die chemische Industrie im Umfeld der Hafenstadt Gabès ist vor allem auf die Verarbeitung der großen Phosphatvorkommen des Landes ausgerichtet, die in erster Linie für die Produktion von Phosphatdünger genutzt werden. Eine relevante Größenordnung haben zudem der Maschinenbau (Kraftfahrzeugteile) und die Elektrotechnik (Kabelherstellung). Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie verarbeitet die landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus einheimischer Produktion. Die Landwirtschaft Tunesiens ist wenig industrialisiert, kleine Familienbetriebe sind die dominierende Organisationsform. Diese Struktur führt dazu, dass noch rund ein Fünftel der erwerbstätigen Tunesier in der Landwirtschaft beschäftigt ist. Exportiert werden vor allem Datteln und Olivenöl.

Chancen für den Außenhandel durch geplantes Freihandelsabkommen mit der EU

Das Wirtschaftswachstum wird für das Jahr 2016 auf 1,5% geschätzt, für 2017 sind 2,8% prognostiziert. In den Jahren zuvor lagen die Wachstumsraten bei etwas unter 3%, im Jahr 2015 verharrte das Wachstum wegen der Anschläge und zudem wegen Streiks im Bergbau bei nur 0,8%. Der Staatshaushalt wies 2015 ein Defizit von 5,7% des BIP aus. Die Staatsverschuldung ist auf 54% des BIP angestiegen. Die Inflationsrate lag 2016 wohl bei 3,7%, für 2017 wird ein ähnliches Niveau erwartet.

Seit 1995 besteht zwischen der EU und Tunesien ein Assoziierungsabkommen, in dessen Rahmen Tunesien 2012 den Status einer „privilegierten Partnerschaft“ mit der EU erreichte. Als erstes Land der Region hat Tunesien 2008 die Zölle für Industriegüter im Handel mit der EU vollständig abgeschafft. Nun sollen auch Agrarprodukte, Dienstleistungen und die Luftfahrt in den Freihandel einbezogen werden. Seit Oktober 2015 werden hierzu Verhandlungen geführt.

Tunesien ist außenwirtschaftlich stark auf Europa ausgerichtet. Frankreich, Italien und Deutschland sind die wichtigsten Außenhandelspartner. Zwischen Tunesien und Deutschland bestehen intensive Wirtschaftsbeziehungen, das Außenhandelsvolumen beträgt etwa 3 Mrd EUR. Deutschland nimmt bei den Investitionen im Land eine führende Rolle ein. Das deutsche Engagement hat sich seit dem Sturz Ben Alis 2011 fast verdreifacht. Nach Angaben der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer arbeiten rund 250 deutsche Unternehmen in Tunesien. Sie beschäftigen insgesamt rund 50.000 Arbeitskräfte und haben etwa 350 Mio EUR investiert. Aus Deutschland bezieht Tunesien vor allem elektrotechnische Erzeugnisse, Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugteile sowie Maschinen. Nach Deutschland werden Textilien, elektrotechnische Komponenten (insbesondere Kabel), Lederwaren, Rohöl und Nahrungsmittel exportiert.

Investorenkonferenz „Tunisia 2020“

Mit der Ende November des vergangenen Jahres veranstalteten Investorenkonferenz „Tunisia 2020“ hat Tunesien ein Signal des Aufbruchs gesendet. Das Forum wurde genutzt, um das zum Jahresbeginn in Kraft getretene Investitionsgesetz vorzustellen. Investitionen, die der Steigerung der Mehrwertschöpfung, der Förderung wirtschaftsschwacher Regionen oder der Ausbildung junger Menschen dienen, werden mit Zuschüssen und Steuernachlässen gefördert. In- und ausländische Investoren sollen nun grundsätzlich gleich behandelt und Genehmigungsprozesse vereinfacht werden. Auf der Konferenz wurden die neuen Infrastrukturprojekte des Entwicklungsplans für die Jahre 2016 bis 2020 vorgestellt. Insgesamt handelte es sich um rund 120 Vorhaben. Sie bieten auch deutschen Unternehmen zahlreiche Anknüpfungspunkte etwa im Pharmasektor, der Medizin und beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Bisher spielen die erneuerbaren Energien für den Energiemix noch kaum eine Rolle, bis 2030 soll deren Anteil auf 30% gesteigert werden. Während der Tagung erhielt Tunesien bilaterale Finanzierungsversprechen über insgesamt 13,6 Mrd EUR. Selbst wenn sich am Ende davon nur ein kleinerer Teil realisieren sollte, ist dies bereits als ein Erfolg für Tunesien zu verbuchen.

Chancen für deutsche Unternehmen

Das Investitionsprogramm in Verbindung mit dem Investitionsgesetz bietet Unternehmen aus Deutschland zahlreiche Ansatzpunkte. Die BHF-BANK kann als erfahrener Partner in der Außenhandelsfinanzierung bei der Verwirklichung von Geschäftsplänen zum Beispiel mit Hermes- oder bpifrance-gedeckten Finanzierungen oder Akkreditivbestätigungen zur Seite stehen. Über die lokale Präsenz ihrer Muttergesellschaft Oddo & Cie verfügt die Bank über gute Kontakte in Tunesien.

Tunesien hat ein großes wirtschaftliches Potential, obwohl es der Fläche nach in Nordafrika nur ein relativ kleines Land ist. Durch seine geographische Lage und seine engen Kontakte nach Frankreich ist es als „Sprungbrett“ für deutsche und insgesamt europäische Unternehmen auf den afrikanischen Kontinent prädestiniert. Deutschland hat sehr intensive und gute Beziehungen mit Tunesien und ist einer der wichtigsten Handelspartner. Damit bestehen gute Voraussetzungen für den Ausbau der Wirtschaftsaktivitäten.

ingo.dieter.tuchnitz@bhf-bank.com

Aktuelle Beiträge

Cookie-Einwilligung mit Real Cookie Banner