Die Rückkehr Wladimir Putins in das russische Präsidentenamt ist keine Garantie für sorgenfreie Wachstumsjahre. Russlands öko­nomisches und politisches Modell bedarf einer dringenden Überholung und wird in den kommenden Jahren auf die Probe gestellt werden. Dennoch wird Russlands Zahlungsfähigkeit solide bleiben. Hierfür sprechen die hohen Öleinnahmen, der (wenn auch ­sinkende) Überschuss in der Leistungsbilanz, die robusten Verschuldungskennzahlen und die vorteilhafte Liquiditätslage.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.

Mit dem unangefochtenen Sieg Wladimir Putins bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 endet das Interregnum Dmitri Medwedews, der nun wieder auf den Posten des Premierministers wechselt. Ein Wermutstropfen im Wahlsieg des Kremlkandidaten war jedoch die öffentliche Wahrnehmung des Ämtertausches. Das Bekenntnis, dieses Szenario schon vor Jahren geplant zu haben, ließ die Wahlen in Russland nahezu lächerlich erscheinen. Durch seine große Popularität und die seiner Partei Vereinigtes Russland hatte Putin die Wahlen in der letzten Dekade mit Leichtigkeit gewonnen und dies wahrscheinlich, ohne einen so breiten Wahlbetrug zu benötigen.

Auf die Bekanntmachung im September folgend, mussten jedoch sowohl Medwedew und Putin als auch ihre Partei Vereinigtes Russland eine schnell schwindende Unterstützung in Meinungsumfragen feststellen. Die erreichte Stimmenzahl bei der Dumawahl am 4. Dezember überraschte daher nicht, da ein Rückschlag für Vereinigtes Russland erwartet worden war. Die Partei sah sich einem starken Einbruch der Unterstützung gegenüber, von 64% gezählter Stimmen 2007 auf etwas über 49% – trotz Wahlmanipulation, für die es reichlich Beweise gibt. Vereinigtes Russland konnte seine Mehrheit mit 238 von 450 Sitzen erhalten. Dies entsprach zum einen einer weit geringeren als der von Kremlführern erhofften Mehrheit und, was eher bedeutend ist, der ersten Wahlschlappe für Putin seit seiner Machtergreifung 1999.

Dennoch führten die Wahlen zu keinerlei systemischer Erneuerung. Keine der drei Oppositionsgruppen kann als wirkliche Oppositionspartei verstanden werden, die in der Lage wäre, Staat und Gesellschaft zu reformieren. Politischer Druck müsste daher in Russland von der Straße ausgehen.

20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion trägt Russland immer noch schwer an ihrem Vermächtnis. Nicht nur die industrielle Produktion macht lediglich drei Viertel des Niveaus von 1998 aus – eine Folge der verheerenden Periode 1991 bis 1996 –, sondern auch Infrastruktur und Ausstattung stammen häufig aus Sowjetzeiten und verlangen enorme Aufholanstrengungen. Mehrere dramatische Ereignisse in jüngeren Jahren illustrieren diese stufenweise Degradierung, z.B. die Explosion in Russlands größtem Kraftwerk im Jahr 2009 und das schlechte Management des massiven Waldbrandes im Sommer 2010.

In den 90er Jahren wurden kaum neue Investitionen getätigt, und während des Booms 2000 konzentrierten sich die Unternehmen auf Produktionsausweitungen statt auf Effizienzsteigerungen. Während des letzten Jahrzehnts hat der rasch steigende Konsum ein starkes Wirtschaftswachstum verursacht. Allerdings wurde dies hauptsächlich durch geringe Investitionen in neue Geschäftstätigkeiten und in die Infrastruktur begleitet, und die moderaten Produktivitätszuwächse wurden lediglich durch den Abbau von Überkapazitäten aus Sowjetzeiten erreicht. Dieses Potential ist nun nahezu erschöpft, und neue Kapazitäten müssen dringend erzeugt werden.

Die steigenden Einnahmen der Öl- und Gaswirtschaft haben es Russland lange erlaubt, seinen industriellen Abstieg zu verbergen, der 2009 zum Vorschein kam. Trotz der stimulierenden Staatsausgaben schrumpfte die Wirtschaft um 8% und offenbarte ihre strukturellen Schwächen. Während die Krise weltweit um sich griff, waren die Auswirkungen in Russland am offensichtlichsten: Das Land verzeichnete den stärksten Abschwung unter den G20. Seitdem bewegt sich das Wachstum um 4% erheblich unter dem Jahresdurchschnitt von 7% des Zeitraums 2000 bis 2008. Die russische Wirtschaft, die auf Öl, Gas und – zu einem etwas geringeren Anteil – anderen Gütern basiert, erholte sich nur sehr moderat, insbesondere wenn man den allgemeinen Rohstoffpreisanstieg seit 2009 bedenkt.

Vorhersagen gehen von einem Rückgang des jährlichen BIP-Wachstums auf einem Niveau unter der 4%-Marke auf mittlere Sicht aus, was einem schwächeren Wirtschaftswachstum als 2008 entspräche. Zudem hinkt die russische Wirtschaft anderen führenden aufstrebenden Märkten hinterher, und die Wohlstandslücke zur entwickelten Welt wird nur langsam kleiner. Obwohl die tiefe Rezession 2009 Panik in Moskau auslöste und die Autoritäten zu dieser Zeit realisierten, dass eine ökonomische Erneuerung zwingend geworden war, verschwand dieses Gefühl von Dringlichkeit wieder, als sich die Rohstoffpreise erholten. Nachlässigkeit in Anbetracht günstiger Handelsbedingungen wäre ein Fehler, da die Auswirkungen eines neuen Schocks noch verheerender ausfallen könnten.

Wenn auch Öl- und Gasreichtum von Vorteil für ein Land sind, führen die zunehmende Abhängigkeit und der Missbrauch der reichlichen Rohstoff­einnahmen in Russland jedoch zu wachsenden Problemen. Denn die Geldquelle dient vor allem dazu, ein ineffizientes und undurchsichtiges politisches System am Leben zu erhalten, statt eine veraltete ökonomische Infrastruktur zu erneuern oder Humankapital zu fördern. Zusammen machen die Ausgaben der Regierung für Gesundheit und Bildung lediglich 8% des BIP aus, das entspricht rund der Hälfte des durchschnittlichen OECD- Niveaus.

Hohe Energiepreise haben die Importsteigerungen zwar kompensiert und dazu beigetragen, Russlands Leistungsbilanz zu stärken, jedoch ist die gesamte Zahlungsbilanz durch die Entwicklung der Kapitalbilanz geschwächt worden. Hier mussten über die letzten Jahre hohe Abflüsse verbucht werden. Der IWF rechnet aufgrund der steigenden Importe und trotz voraussichtlich hoher Ölpreise mit einer Schrumpfung des derzeitigen Leistungsbilanzüberschusses über die nächsten Jahre. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung angesichts der hohen Überschüsse im zweistelligen Prozentbereich in Bezug auf das BIP, die das Land noch 2005 mit einem Ölpreis bei knapp über 50 USD je Barrel verbuchte.

Der verbreitete Optimismus unter Investoren bezüglich der aufstrebenden Märkte 2010 und in der ersten Hälfte 2011 hat sich nicht auf Russland übertragen. Während die meisten Schwellenländer mit massiven Kapitalzuflüssen zu kämpfen hatten, die die Wirtschaft überhitzten, ereignete sich in Russland genau das Gegenteil: Kapital floss in großen Mengen und stetig ab. 2011 strömten mehr als 84 Mrd USD privates Kapital aus Russland, im Vergleich zu 34 Mrd USD im Vorjahr.

Teile der Kapitalabflüsse sind durch Auslandsinvestitionen russischer Energiekonzerne zu erklären. Dennoch erscheinen die Kapitalabflüsse auffallend hoch, wenn man die vielen Investitionsmöglichkeiten in Russland selbst bedenkt. Obwohl die Kapitalrenditen in Russland hoch sind, wird bevorzugt Geld außer Landes gebracht, auf der Suche nach weniger lohnenswerten, aber einfacher zugänglichen Investitionen.

Der gleiche Trend lässt sich in Bezug auf Direktinvestitionen aus dem Ausland (FDI) beobachten. Die Nettodirektinvestitionen nach Russland entwickelten sich zwischen 2000 und 2005 sehr schleppend, unter dem Strich wurde in diesem Zeitraum ein geringer Abfluss registriert. Zwischen 2006 und 2008 wuchsen die Nettokapitaleingänge gravierend trotz gleichzeitig wachsender Kapitalabflüsse. Die globale Krise und die daraufhin stark gestiegene Risikoaversion lösten einen enormen Geldabfluss in den Jahren 2009 und 2010 aus. Dieser Trend hat sich während der ersten Hälfte 2011 intensiviert mit Nettoabflüssen bei den Direktinvestitionen aus dem Ausland von 10 Mrd USD, was mehr als dem Gesamtabfluss 2010 entspricht.

Russland verfügt jedoch über die drittgrößten Währungsreserven nach China und Japan. Sie entsprechen Importen von elf Monaten und decken über 650% der kurzfristigen Verbindlichkeiten ab. Diese sehr starke Liquiditätsposition erklärt die vorteilhafte Klassifizierung des Landes in Bezug auf das kurzfristige politische Risiko. Delcredere stuft Russland auf Stufe 2 von sieben möglichen Risikostufen ein.

Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu

19 replies on “Russlands Déjà- vu bremst Reformhoffnungen”

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