Die politische Lage in Indien ist von dauerhaftem Stillstand geprägt. Hinzu kommen Sicherheitsrisiken, z.B. in Verbindung mit gewalttätigen Auseinandersetzungen in einzelnen Gemeinden, Aufständen maoistischer Gruppen und dem ungelösten Konflikt mit Pakistan wegen der Region Kaschmir. Es besteht ein hohes Risiko, dass sich die politische Lage bis zu den Parlamentswahlen 2014 nicht ändert, was die wirtschaftliche Entwicklung Indiens weiter beeinträchtigen dürfte.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.

Die indische Wirtschaft lahmt: Nachdem das Bruttoinlandsprodukt jahrelang kräftig zulegte – die durchschnittliche Wachstumsrate betrug im Zeitraum 2003 bis 2010 8,5% –, hat das Wirtschaftswachstum des Schwellenlands seit 2011 an Schwung verloren. Gründe dafür sind insbesondere zyklische und externe Faktoren: die globale Konjunkturabkühlung, die zu einer Verringerung der indischen Exporte in die Industrieländer führt, und die negativen Folgen der hohen Rohstoffpreise. Diese beiden Faktoren tragen dazu bei, dass sich das Leistungsbilanzdefizit auf etwa 10% der indischen Exporterlöse ausweiten wird.

Frühere ehrgeizige Wachstumsprognosen wurden nach unten korrigiert. Indiens Wirtschaftswachstum dürfte sich bis 2015 auf einem niedrigeren Niveau von durchschnittlich 7,5% einpendeln. Zwar wird die diversifizierte Wirtschaft Wachstums-impulse durch einen kräftige Inlandsnachfrage erhalten. Auch der widerstandsfähige Dienstleistungssektor, insbesondere die IT-Dienstleistungen, werden das Wachstum stützen.

Ein Problem liegt darin, dass die Kreditvergabe an den Privatsektor und die Investitionstätigkeit durch hohe Zinsen erschwert werden, zumal die Geldpolitik seit zwei Jahren gestrafft wird. Der jüngste Wechsel zu einer akkommodierenden Geldpolitik dürfte die Lage verbessern und eine Erholung der Inlandsnachfrage ermöglichen. So ließ auch der Preisauftrieb nach, mit einem Rückgang der Inflationsrate von 10,4% im Jahresdurchschnitt 2010 auf 6,9% im ersten Quartal 2012. Doch die Inflation wird sich voraussichtlich weiter auf hohem Niveau bewegen, da der Druck auf die Preise durch das teure Importöl und immer wieder auftretende Nahrungsmittelengpässe anhält. Folglich besteht ein Risiko, dass die Geldpolitik nicht ausreichend gelockert werden kann und sie somit das Wachstum weiter hemmen wird.

Hohe Kreditkosten und die Unsicherheit bzgl. der Entwicklung der globalen Wirtschaft erklären nur teilweise den beachtlichen Rückgang der Unternehmensinvestitionen. Diese sind in einem Umfeld sinkenden Vertrauens der Investoren in Verbindung mit schlechter Regierungsführung und einem Mangel an wirtschaftlichen Reformen zurückgegangen.

In den vergangenen zwei Jahren haben sich die ausländischen Direktinvestitionen auf weniger als 20 Mrd USD abgeschwächt. Indien ist also anfälliger für Kapitalabflüsse geworden und muss nun stärker auf Auslandskredite zurückgreifen, die das Leistungsbilanzdefizit finanzieren. Das Risiko für Geschäfte mit Indien stuft Delcredere daher aktuell als mäßig hoch (Länderkategorie B) ein.

Die chronisch schlechte Haushaltslage trübt die konjunkturellen Aussichten des Schwellenlands zusätzlich ein. Das Haushaltsdefizit fiel im Fiskaljahr 2011/2012 mit 8% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) höher aus als geplant. Die öffentlichen Schulden in Höhe von 66% des BIP werden fast ausschließlich auf dem Inlandsmarkt refinanziert, und für die öffentlichen Zinszahlungen muss fast ein Viertel der gesamten Staatseinnahmen aufgewendet werden.

Eine größere Steuerreform (indirekte und direkte Steuern) ist immer noch geplant. Das Privatisierungsprogramm ist im Gange, erfordert aber bessere Marktbedingungen. Ebenso ist ein Abbau der bislang steigenden Subventionen für Nichtnahrungsmittel geplant – die gesamten Subventionen der Zentralregierung be-laufen sich auf 2% des BIP.

Doch weil der Subventionsabbau wenig populär ist, könnte die Regierung diese Maßnahme verwässern, aussetzen oder hinauszögern, so wie sie es bereits im vergangenen Jahr mit vielen anderen Maßnahmen gemacht hat (z.B. Öffnung des Einzelhandelssektors für ausländische Investoren, Erhöhung der Gebühren im Eisenbahnverkehr). Dieses Zurückrudern zeigt, wie negativ sich die politische Lage auf die Umsetzung der Wirtschaftsreformen auswirkt. Der Erfolg der eingeschlagenen Haushaltskonsolidierung muss somit in mittlerer Frist nochmals neu bewertet werden.

Die alarmierenden Haushaltszahlen zwingen die Regierung, ihren Konsolidierungskurs fortzusetzen. Sie muss ihre Einnahmen massiv erhöhen, um die Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und Armutsbekämpfung stemmen zu können. Angesichts der wirtschaftlichen Lage schreitet dieser Prozess allerdings nur langsam voran.

Auch der politische Stillstand im Land wirkt sich negativ auf die Wirtschafts­reformen aus. Durch Differenzen in der Regierungskoalition UPA (United Progressive Alliance) werden nur noch wenige Gesetzentwürfe gebilligt. Dies dürfte die notwendigen Strukturreformen bis zu den nächsten nationalen Parlamentswahlen 2014 hinauszögern. Trotz der politischen Instabilität stuft Delcredere das kurzfristige politische Risiko Indiens derzeit als gering ein (Länderkategorie 2).

Die Landespolitik Indiens wurde durch eine Reihe von Korruptionsskandalen lahmgelegt, die Ende 2010 enthüllt wurden und bei denen es Anzeichen für betrügerische Absprachen zwischen Regierungsmitgliedern und Geschäfts­leuten gab.

Die Kongresspartei von Premierminister Singh wird im Parlament nicht nur regelmäßig durch die Opposition, sondern zeitweise auch durch Differenzen mit ihren kleineren verbündeten Parteien innerhalb der Regierungskoalition UPA (United Progressive Alliance) behindert, was zur Folge hat, dass nur noch wenige Gesetzentwürfe gebilligt werden.

Zudem wird die Regierung Singh durch die Opposition und die Öffentlichkeit unter Druck gesetzt, insbesondere in ­Verbindung mit dem umstrittenen Antikorruptionsgesetz „Lokpal“, das einen Ombudsmann vorsieht, der befugt wäre, gegen Politiker und Regierungsmitglieder zu ermitteln.

Hinzu kommt, dass Indien über ein föderales demokratisches System verfügt und somit der Ausgang von Wahlen in einzelnen Bundesstaaten nicht ohne Folgen für die Politik der Kongresspartei bleibt. Ihr schlechtes Abschneiden kürzlich bei diversen Bundesstaatswahlen, insbesondere auch im größten Staat Uttar Pradesh, wo regionale Parteien erfolgreich waren, zeigte, wie stark der Einfluss von lokalen Themen und guter Regierungsführung auf das Wahlverhalten ist und dass die politischen Entscheidungen auf nationaler Ebene komplexer werden.

Angesichts der geschwächten Position der Zentralregierung und der fehlenden Übereinstimmung innerhalb der Regierungskoalition UPA dürfte der politische Stillstand die Umsetzung der notwendigen Strukturreformen (z.B. die Steuerreform) weiter hinauszögern bis zu den nächsten nationalen Parlamentswahlen im Jahr 2014 – es sei denn, es würden vorgezogene Wahlen stattfinden.

Dies gibt in einem Umfeld wirtschaftlicher Abschwächung Anlass zur Sorge, auch wenn einzelne Bundesstaaten die Möglichkeit haben, marktfreundliche Reformen umzusetzen und damit wirtschaftlich erfolgreicher zu sein, wie es zurzeit in Gujarat, Maharashtra oder Karnataka der Fall ist.

Nach dem überragenden Wahlsieg im Jahr 2009 waren die Erwartungen an die Kongresspartei hoch. Nun scheint es so, als könnten die internen Probleme der Regierungskoalition und der Mangel an starken Nachwuchspersönlichkeiten innerhalb der wichtigsten nationalen Parteien für eine längere Phase politischer Instabilität sorgen.

Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu

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