Wenn die britischen Wähler am 23. Juni über den Verbleib des Landes in der Europäischen Union entscheiden, werden auch die deutschen Exporteure gebannt auf das Ergebnis blicken. Es drohen Zölle und zusätzliche Kontrollen. Und schließlich bleibt offen, wie sich das Ergebnis der TTIP-Verhandlungen auf die Handelsbeziehungen zwischen der EU und den USA einerseits und den Handel mit Großbritannien andererseits auswirken würde.

Von Gunther Schilling, Leitender Redakteur ExportManager, FRANKFURT BUSINESS MEDIA

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Exportzuwächse in Gefahr

Das Vereinigte Königreich ist aktuell nach Frankreich und den USA drittgrößter Absatzmarkt der deutschen Exportwirtschaft. Die deutsche Ausfuhr verzeichnete dort in den ersten beiden Monaten 2016 mit +5,1% zudem weit überdurchschnittliche Zuwächse. Sollten die Wähler für einen Austritt Großbritanniens aus der EU stimmen, würde sich zunächst nichts an den Möglichkeiten des Zugangs zum britischen Markt ändern. Erst nach einer Übergangszeit von zwei Jahren würde der Austritt wirksam.

Doch die Marktreaktionen dürften wesentlich schneller erfolgen, da sich bereits zahlreiche Unternehmen auf eine Standortverlagerung auf das europäische Festland vorbereiten. Vor allem die Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen, die bislang von den günstigen Standortbedingungen in Großbritannien profitierten, scheuen die mit dem Austritt verbundene Unsicherheit. Dadurch verlagert sich auch das deutsche Exportgeschäft in die neuen Standorte, bzw. die Lieferungen erfolgen innerhalb Deutschlands.

Dass dies kein Nullsummenspiel ist, also nur eine Verlagerung des Geschäfts erfolgt, zeigen die positiven Effekte der Handelsliberalisierung im Zuge der EU-Erweiterung. Die dadurch entstandene Verflechtung von Wertschöpfungsketten bildet sich durch den Aufbau von Handelsbeschränkungen wie Zöllen und Kontrollen wieder zurück. Wettbewerbsvorteile durch die europäische Arbeitsteilung werden zunichte gemacht. Und schließlich dürfte die Nachfrage in Großbritannien zurückgehen und sich auf andere Lieferanten verlagern.

Großbritannien unter Druck

Eine zentrale Bedeutung für die britische Wirtschaft hat der Finanzsektor, der unter dem Austritt des Landes voraussichtlich besonders leiden würde. Durch den Abzug von Kapital dürfte das Britische Pfund unter starken Abwertungsdruck geraten und Importe aus der EU kräftig verteuern. Allerdings böte der Kursverfall ausländischen Investoren günstige Einstiegsmöglichkeiten in den britischen Markt und britischen Exporteuren deutliche Preisvorteile im internationalen Wettbewerb – sofern die Produktion keinen hohen Importanteil benötigt.

Weitere Unsicherheit kommt durch die Verhandlungen über das TTIP-Abkommen zwischen der EU und den USA in die Exportaussichten Richtung Westen. Bei einem erfolgreichen Abschluss würde ein aus der EU ausgetretenes Großbritannien voraussichtlich deutliche Nachteile erleiden. Sollte das Abkommen scheitern, könnten sich dagegen die Absatzmöglichkeiten deutscher Unternehmen auf dem US-Markt verschlechtern – insbesondere, wenn stattdessen ein Abkommen zwischen den USA und Großbritannien zustande käme.

Großbritannien droht indes eine Zerreißprobe im Innern, wenn Schottland seine Ankündigung wahr macht und in einem erneuten Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich abstimmen ließe, um in der EU zu bleiben. Auch die Republik Irland verbliebe in der EU und müsste mit Beschränkungen im Wirtschaftsverkehr mit Nordirland reagieren. Dies würde den Handel auf den britischen Inseln beeinträchtigen.

EU im Belastungstest

Derzeit sind die EU-Mitglieder außerhalb der Euro-Zone die Stütze des deutschen Exports. Fast der gesamte Exportzuwachs der ersten beiden Monate 2016 entfällt auf diese Gruppe, zu der neben Großbritannien vor allem die EU-Staaten in Mittel- und Südosteuropa zählen. Auch dort ist die Skepsis gegenüber der Europäischen Union gewachsen. Im Falle Polens und Ungarns ist ein ernster politischer Konflikt mit den westlichen Mitgliedstaaten nicht ausgeschlossen – nicht allein wegen der Flüchtlingspolitik, sondern auch in Fragen der Rechtsstaatlichkeit.

Zudem wächst in einigen Ländern die Bereitschaft, durch zusätzliche Kontrollen die Freizügigkeit im Binnenmarkt einzuschränken. Schließlich bleibt die Schuldenkrise in den südlichen Mitgliedstaaten eine anhaltende Belastung für die Euro-Zone, die einer erneuten Wirtschafts- und Finanzkrise möglicherweise nicht mehr standhalten würde.

Bei allen Risiken und negativen Szenarien sind jedoch auch starke Kräfte spürbar, die die Europäische Union zusammenhalten. So überwiegt doch in den meisten Ländern die Zustimmung zur europäischen Zusammenarbeit und zu den wirtschaftlichen Vorteilen des gemeinsamen Binnenmarktes. Dies gilt in den Mitgliedstaaten, die von der politischen und finanziellen Unterstützung der europäischen Partner profitieren, ebenso wie in den Ländern, die den gemeinsamen Markt erfolgreich nutzen. Vor allem die deutschen Exporteure würden unter einem Auseinanderfallen der Europäischen Union leiden.

Kontakt: gunther.schilling@frankfurt-bm.com

 

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