Wenn Präsident Lula da Silva zum Jahresende 2010 aus dem Amt scheidet, blickt Brasilien auf acht Regierungsjahre zurück, die zu den stabilsten und erfolgreichsten in der jüngeren Geschichte zählen. Auch die Wirtschafts- und Finanzkrise hat das Land nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Der nächste Präsident dürfte den eingeschlagenen pragmatischen Kurs beibehalten, aber auch neue Akzente setzen. Insbesondere die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2014 stellt das Land vor eine Herausforderung.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.

Die brasilianische Wirtschaft war gegen Einflüsse der weltweiten Wirtschaftskrise 2008/2009 keineswegs immun. Unternehmen und Finanzgesellschaften hatten mit Liquiditätsknappheit zu kämpfen, und die Rohstoffpreise sanken, was zu einem Rückgang der Exporterlöse führte. Doch dank der Exportdiversifizierung und der Binnennachfrage (zum Teil gefördert durch öffentliche Kredite und Steueranreize) erholte sich die Wirtschaft im zweiten Quartal 2009 deutlich.

Das Wirtschaftswachstum seit Anfang 2010 ist beeindruckend. Inzwischen gibt es Anzeichen für eine Überhitzung. Da sich das Land immer stärker in die Weltwirtschaft integriert hat, ist die Wirtschaft anfällig für negative Einflüsse von außen, z.B. ungünstige Rohstoffpreise oder einen starken Rückgang der Kapitalströme. Darüber hinaus hat sich die Finanzlage des Landes verschlechtert, vor allem im Hinblick auf den Anstieg der Staatsverschuldung, die bis 2008 noch rückläufig war, und die Zunahme außerbilanzieller Posten (z.B. Kapitalausstattung der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES).

Erstmals in ihrer Geschichte ist es der brasilianischen Regierung gelungen, Steueranreize zu schaffen, um die Binnennachfrage anzukurbeln. Die während der Krise umgesetzten steuer- und währungspolitischen Maßnahmen sind ein äußerst positives Zeichen. Sie zeigen, dass die Regierung und die Zentralbank in der Lage sind, volkswirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen, die Wachstumsanreize schaffen. Dagegen waren die Krisen in der Vergangenheit auf die wenig nachhaltige Politik der Behörden zurückzuführen.

Die Leistungsbilanz stürzte 2008 nach fünf Jahren des Überschusses ins Defizit. Es wird davon ausgegangen, dass sich das Defizit 2010 gegenüber 2009 verdoppeln und auf 2,8% des BIP ansteigen wird, da die Importe wegen der starken Binnennachfrage zunehmen. Das Leistungsbilanzdefizit wird voraussichtlich auch im Jahr 2010 durch ausländische Direkt- und Portfolioinvestitionen mehr als ausgeglichen werden.

Während die Portfolioinvestitionen im Verlauf der Krise stark schwankten, wertete der brasilianische Real zwischen Juli 2008 – der US-Dollar notierte auf einem Tiefstand von 1,56 R/US$ – und Dezember 2008 um ca. 50% ab. Um die Kapitalzuflüsse und ihre Auswirkungen auf den Real steuern zu können, wurde im Oktober 2009 eine Finanztransaktionsteuer in Höhe von 2% wiedereingeführt. Aufgrund dieser Steuer sind die Portfoliozuflüsse zwar leicht zurückgegangen, fallen aber immer noch positiv aus, da Brasilien für ausländische Anleger weiterhin äußerst attraktiv ist. Die Devisenreserven werden voraussichtlich von ihrem hohen Niveau von derzeit etwa elf Monatsimporten aus weiter steigen.

Die gute Entwicklung Brasiliens ist nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht bedeutend. Dank des staatlichen Familienzuschusses (Bolsa Familia) und der Erhöhung der Mindestlöhne haben Armut und Ungleichheit abgenommen, allerdings bestehen weiterhin regionale Unterschiede. Auf internationaler Ebene entwickelt sich Brasilien zu einem wichtigen Geberland und behauptet sich als einflussreicher Akteur, wenn auch gelegentlich auf umstrittene Weise.

Bei den Wahlen am 3. Oktober 2010 werden zwei Drittel des Senats sowie die gesamte Abgeordnetenkammer neu besetzt. Es wird erwartet, dass keine Partei die absolute Mehrheit erzielen wird. Der nächste Präsident wird daher eine Koalitionsregierung bilden müssen. Präsident Lula darf gemäß der Verfassung kein drittes Mal kandidieren.

Die beiden wichtigsten Präsidentschaftskandidaten sind Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (links), Lulas ehemalige Stabschefin und Wunschnachfolgerin, und José Serra, Exgouverneur von São Paulo, von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (Mitte links). Unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahl gewinnt, ist davon auszugehen, dass die wirtschaftspolitischen Leitlinien beibehalten werden (Inflationskontrolle, Finanzdisziplin und flexibler Wechselkurs).

Dies gilt jedoch nicht für die Außenpolitik, da es im Fall der Wahl von Serra wenig wahrscheinlich ist, dass er Lulas Politik gegenüber linksregierten Nachbarstaaten fortsetzen wird. Die neue Regierung steht vor mehreren schwierigen Aufgaben, unter anderem der Durchsetzung einer Steuerreform, da das aktuelle System komplex ist und häufig geändert wird. Außerdem sind Infrastrukturinvestitionen im Allgemeinen sowie vor der Fußballweltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Spielen 2016 im Besonderen dringend notwendig.

Nach Ölfunden in der Tiefsee des Santos-Beckens vor Rio de Janeiro besitzt Brasilien das Potential, sich zu einem der großen Ölförderländer zu entwickeln. Es wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem das aktuelle Konzessionssystem durch ein Vertragssystem zur gemeinsamen Förderung (Production Sharing Contracts) ersetzt werden soll. Mit dem Gesetz wurde der halbstaatlichen Ölgesellschaft Petrobras eine Mindestbeteiligung von 30% an allen neuen Ölfeldern zugesichert.

Mit der Verabschiedung eines Gesetzes zur gleichmäßigen Verteilung der Ölerträge unter den Bundesstaaten ist in näherer Zukunft nicht zu rechnen, da der Bundesstaat Rio de Janeiro, der bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober eine entscheidende Rolle spielen wird, gegenüber der derzeitigen Situation Einnahmeeinbußen hinnehmen müsste.

Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu

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