Das bislang starke Wachstum Indiens weist seit geraumer Zeit eine Verlangsamung auf. Dieser Negativtrend hat sich 2017 ­verschärft. Die chaotische Bargeldreform im November 2016 sowie der unsichere Übergang zu einer einheitlichen Umsatzsteuer (Goods and Services Tax – GST) im Juli 2017 haben die Wirtschaftstätigkeit beeinträchtigt. Da die Folgen dieser Schocks jedoch in den kommenden Monaten abklingen dürften, bleiben die mittel- bis langfristigen Wirtschaftsaussichten günstig.

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Inländische Schocks und Unternehmensschulden schwächen Wachstum

Die starke Dynamik, die seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi spürbar war, hat nachgelassen. Das Wirtschaftswachstum ist im Lauf des Haushaltsjahrs April 2016–März 2017 zurückgegangen und könnte auch im aktuellen Haushaltsjahr 2017/18 leicht schrumpfen.

Der Rückgang geht hauptsächlich auf den Liquiditätsengpass zurück, der entstand, als die Regierung im November 2016 völlig unerwartet beschloss, die beiden wichtigsten Banknoten (86% des gesamten Geldes) aus dem Verkehr zu ziehen und durch neue Scheine zu ersetzen. Das Ziel dieses sogenannten Demonetarisierungsplans – die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Schwarzgeld sowie die Förderung des digitalisierten Zahlungsverkehrs – wurde jedoch laut einem aktuellen Bericht der Notenbank Reserve Bank of India verfehlt. Stattdessen traf dieser „geldpolitische Knall“ von der Landwirtschaft bis hin zur Industrieproduktion und dem privaten Verbrauch sämtliche Bereiche einer immer noch vorwiegend informellen und auf Bargeld basierenden Wirtschaft. Hierdurch sank das BIP-Wachstum von 8% im Haushaltsjahr 2015 auf – immer noch robuste – 7,1%.

Nach einer weitgehenden Rückkehr zur vor der Bargeldreform herrschenden Normalität wurde die Wirtschaft von einem weiteren Schock getroffen: der „Goods and Services Tax“ (GST). Diese einheitliche Umsatzsteuer wurde im Juli dieses Jahres beschleunigt eingeführt, ohne dass vollständige Klarheit bezüglich der Verfahren und Sätze bestand. In der Folge sank das BIP-Wachstum im ersten Quartal auf den niedrigsten Stand seit drei Jahren: 5,7% (ggü. dem Vorquartal).

Diese Entwicklungen vollziehen sich vor dem Hintergrund der Entschuldung finanziell schwacher Banken und verschuldeter Unternehmen in wichtigen Branchen. Ein BIP-Wachstum von 7% im Haushaltsjahr 2017 erscheint daher fraglich. Eine schrittweise Beschleunigung des Wachstums dürfte folglich erst ab dem Haushaltsjahr 2018 eintreten, während ein Wachstum von 8% erst 2021 erreicht werden könnte, wenn die Nachwirkungen der beiden genannten Schocks abgeklungen sind.

Reformen festigen positive mittel- bis langfristige Aussichten

Die positiven mittel- bis langfristigen Wirtschaftsaussichten Indiens beruhen auf günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie dem niedrigen Ölpreis und der Inflation, die mit unter 4% auf einem Zehnjahrestief liegt und Senkungen der Zinssätze ermöglicht hat. Das Land weist eine starke Zahlungsbilanz und ein überschaubares Leistungsbilanzdefizit auf. Hierzu tragen diverse Faktoren bei. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der niedrige Ölpreis – ein Segen für einen großen Nettoimporteur von Erdöl – sowie die stärkeren Dienstleistungsexporte (insbesondere von Software), die den Rückgang von Rücküberweisungen aus den Golfstaaten, Indiens größten Exporteinnahmen, mehr als ausgeglichen haben. Zwar wird in den kommenden Jahren ein Anstieg des Leistungsbilanzdefizits auf über 6% erwartet, doch die Finanzierung durch starke und ansteigende Direktinvestitionen bleibt weiterhin gewährleistet.

Zusätzlich zu diesen positiven Entwicklungen bilden Indiens großer Binnenmarkt und die starke Verbrauchernachfrage einen Puffer für externe Schocks wie die schwindende globale Nachfrage Chinas und potentielle negative Handelsmaßnahmen der USA während der Amtszeit Donald Trumps. Eine strengere Einwanderungs- und nationalistischere Wirtschaftspolitik der USA könnten dem wichtigen indischen IT-Sektor schaden (dem Sektor mit den größten Einnahmen aus exportierten Dienstleistungen). Solche Entwicklungen könnten sich auf Auslagerungsaktivitäten in Indien sowie auf Rücküberweisungen durch in den USA lebende Inder auswirken, wo die Visumpolitik gegenüber hochqualifizierten ausländischen Arbeitskräften verschärft wurde.

Ein weiterer Faktor, der die überwiegend optimistische Stimmung mittel- bis langfristig bestärkt, ist Modis Reformwillen. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2014 ist das Anlegervertrauen gestiegen, was sich in einem beschleunigten Zufluss von Direktinvestitionen und einer stärkeren Rupie äußert, deren Kurs wieder auf dem Niveau von Mitte 2015 liegt. Die Rupie setzt sich damit von der Volatilität der Währungen vieler anderer Schwellenländer ab. Tatsächlich hat die Regierung sich für die Verbesserung des Geschäftsumfelds eingesetzt. So wurden Maßnahmen zum Bürokratieabbau getroffen, Deregulierung und Digitalisierung gefördert und die Liberalisierung vieler Sektoren durch eine stärkere Öffnung für Direktinvestitionen vorangetrieben.

Neben dem kühnen, jedoch chaotischen „Demonetarisierungsplan“ ist die GST Modis größte Errungenschaft. Sie wurde im vergangenen Juli überhastet eingeführt und zielte darauf ab, das komplexe Steuersystem zu straffen und die unterschiedlichen lokalen und bundesstaatlichen Steuern zu ersetzen. Obwohl zahlreiche Befreiungsmöglichkeiten und unterschiedliche Sätze das neue System komplizierter gestalten als ursprünglich erwartet, handelt es sich um die wichtigste Steuerreform seit der Unabhängigkeit.

Negativ zu vermerken sind die bisher nur mäßigen Fortschritte der „Make in India“-Kampagne, die auf die Förderung des verarbeitenden Gewerbes und die politisch entscheidende Schaffung von Arbeitsplätzen abzielt. Abgesehen von der Neugestaltung des Steuersystems bleibt das Reformtempo bisher insgesamt hinter den Erwartungen zurück, auch wenn Modi, verglichen mit seinen Vorgängern, zweifellos auf einem guten Weg ist. Die mangelnden Fortschritte könnten mit einem gewissen Widerstand gegen Veränderung erklärt werden, der auf ein Festhalten an Traditionen, Bürokratie, die Macht der Bundesstaatsregierungen und den unverändert großen Einfluss des Staats auf die Wirtschaft zurückgeht.

Angeschlagener Bankensektor und Abschwächung der Investitionen

In einem insgesamt positiven makroökonomischen Umfeld können drei Abwärtsrisiken unterschieden werden. Die größte Gefahr geht von einer drohenden Instabilität des Bankensektors aus, insbesondere der staatlichen Geschäftsbanken, die 70% des gesamten Bankvermögens besitzen. Der Bankensektor ist einem hohen und kontinuierlich steigenden Anteil risikobehafteter Vermögenswerte ausgesetzt (er stieg von 10% im März 2015 bis Ende 2016 auf über 12% aller Darlehen aus dem gesamten Sektor)1). Außerdem sind die Banken den Risiken der hochverschuldeten Unternehmensbereiche Stahl, Bergbau und Infrastruktur ausgesetzt, die vor einigen Jahren mit großen Investitionen ausgebaut wurden. Während der Erlass privater Schulden aus vorwiegend politischen Gründen nicht beibehalten und die Gründung einer Bad Bank erwogen werden, verläuft die anhaltende Rekapitalisierung staatlicher Geschäftsbanken, die mit höheren notleidenden Krediten (NPL) belastet sind, noch zu schleppend. Außerdem sind die verfügbaren Mittel mit 700 Mrd Rupien für den Zeitraum 2016–2019 (d.h. höchstens einem Fünftel des nach Schätzungen erforderlichen Betrags) bei weitem nicht ausreichend, um den Sektor zu sanieren.

Das zweite Abwärtsrisiko geht auf das Problem notleidender Kredite bei Staatsbanken sowie auf die hohe Unternehmensverschuldung (insbesondere im In-frastruktursektor) zurück. Beide Faktoren haben Einfluss auf Kreditangebot und Kreditnachfrage. Die Bargeldreform hat diese Situation durch die nachteiligen Auswirkungen auf die Wirtschaft noch verschärft. Hierdurch ist das Wachstum der Bankkredite an den privaten Sektor im vergangenen März auf 5,1% gesunken, den niedrigsten Wert seit 50 Jahren. In den Folgemonaten stieg es erneut auf 6%. Dies hat zwei Konsequenzen. Zum einen wird der Anstieg des NPL-Bestands geschürt. Zum anderen besteht die Tendenz, private und öffentliche Investitionen aufzuschieben. Dies äußert sich in der seit 2012 zurückgehenden inländischen Investitionsquote. Diese Entwicklungen belasten die Wirtschaftstätigkeiten und könnten trotz hoher Ersparnisse und eines günstigen demographischen Profils das Wachstumspotential Indiens beeinträchtigen.

Stabile, aber schwache öffentliche Finanzlage

Ein drittes, seit langem bestehendes Risiko beruht auf der schwachen Haushaltslage, die sich aus einer relativ niedrigen Besteuerungsgrundlage und hohen Zinszahlungen für öffentliche Schulden (ca. 23% der Einnahmen) ergibt. Die Haushaltskonsolidierung wurde eingeleitet und dürfte von der GST begünstigt werden. Der Prozess verläuft jedoch schleppend, da in den kommenden Jahren weiterhin mit einem gesamtstaatlichen Haushaltsdefizit von über 6% des BIP gerechnet wird. Tatsächlich muss die Haushaltsprognose gegebenenfalls korrigiert werden, falls die Zentralregierung den Protesten von Landwirten nachgibt und deren Schulden gemäß dem Wahlversprechen bis 2019 erlässt (ca. 2% des BIP).

Die Staatsverschuldung liegt seit vielen Jahren auf einem hohen Niveau (nahezu 70% des BIP), wird jedoch, optimistischen Einschätzungen zufolge, bis zum Haushaltsjahr 2021 schrittweise auf 60% des BIP zurückgehen.

Trotz der mangelnden finanzpolitischen Spielräume dürfte Modis gestärkte politische Position die Regierung dazu bewegen, die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen. Denkbar wären zum Beispiel Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in Transport und Stromerzeugung, zwei chronische Hemmnisse für wirtschaftliche Aktivitäten, sowie in Sozialausgaben, die den ländlichen Regionen zugutekommen und Modis Chancen bei den Wahlen 2019 begünstigen würden.

Positives Auslandsschuldenprofil und robuste Liquiditätslage

Indien weist eine tragbare Auslandsverschuldung auf. Die Bruttoauslandsverschuldung hat sich in den vergangenen Jahren auf einem recht niedrigen Stand stabilisiert, insbesondere im Vergleich zum BIP (nahezu 23%). Die Verschuldung im Verhältnis zu den Ausfuhren liegt hingegen nach einem Anstieg auf 99% im Haushaltsjahr 2016, dem höchsten Wert seit 13 Jahren, bei rund 97%. Mittel- bis langfristig dürften die Quoten leicht zurückgehen, da das Wachstum der Wirtschaftsleistung die Zunahme der Auslandskredite übersteigt.

Aufgrund der vorwiegend langen Laufzeiten der Auslandsschulden liegt der Schuldendienst seit dem Haushaltsjahr 2004 unter 10% der Exporteinnahmen. Erwartungen zufolge wird diese Quote in den kommenden Jahren auf 8% zurückgehen. Da die Schulden des inländischen Unternehmenssektors nur zu einem geringen Anteil auf US-Dollar lauten (gegenüber einer Gesamtverschuldung des Sektors von 46,6% des BIP im Jahr 2016), dürfte dieser dem Anstieg der US-Zinssätze gewachsen sein.

Die externe Liquidität Indiens ist stark. Da die Direktinvestitionen zugenommen haben und die Exporte schneller gewachsen sind als die Importe, haben die Währungsreserven ein Allzeithoch erreicht und setzen ihren seit 2013 herrschenden Aufwärtstrend fort. Im vergangenen Juni deckte das komfortable Devisenpolster 7,2 Monatsimporte (2012: 5,2 Monatsimporte) sowie das 3,5fache der kurzfristigen Verschuldung ab.

Insgesamt bilden die starken Kennzahlen, von einer robusten Zahlungsbilanz bis hin zu einer recht niedrigen Auslandsverschuldung, in Verbindung mit den positiven Wirtschaftsaussichten die Grundlage für die Einstufung von Indiens mittel- bis langfristigem politischem Risiko in Kategorie 3/7. Das kurzfristige politische Risiko wird dank der robusten und kontinuierlich steigenden externen Liquidität in die zweitbeste Kategorie 2/7 eingestuft. Das Geschäftsrisiko Indiens wird auf einer Skala von A bis C in Kategorie B eingestuft.

Fußnote 1) Risikobehaftete Vermögenswerte umfassen notleidende Kredite (zwischen März 2015 und Ende 2016 von 4,3% auf 9,5% aller Kredite gestiegen) sowie restrukturierte Kredite (Ende 2016 ca. 3% aller Kredite).

Den ausführlichen Länderbericht finden Sie HIER auf der Internetseite von Credendo.

c.witte@credendo.com

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