Die vietnamesische Wirtschaft scheint am Scheideweg zu stehen. Einerseits erwies sie sich während der Weltwirtschaftskrise als robust und erholte sich 2010 gut. Andererseits braucht Vietnam aber dringend umfassende Strukturreformen, um die volkswirtschaftliche Schieflage zu beseitigen, die seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 zunimmt. Die negative Entwicklung steht in scharfem Kontrast zur Situation bei den regionalen Nachbarn Vietnams.

Von Christoph Witte, Direktor Deutschland, Delcredere N.V.

Vietnam erlebt ein starkes Exportwachstum, das auf die höheren Rohstoffpreise, die fortschreitende Erholung der Weltwirtschaft, die verbesserte Inlandsnachfrage und die antizyklische Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist. Mit einem Plus von 30,3% trieben die Exporte im ersten Halbjahr 2011 das Wirtschaftswachstum an, das 5,6% erreichte. 2010 lag das Wirtschaftswachstum noch bei 6,8%, und obwohl dessen Abnahme aufgrund einer Straffung der Geldpolitik zu erwarten war, sind die Aussichten auf ein durchschnittliches jährliches Wachstum von rund 7% bis 2016 gut.

Die Wirtschaftspolitik wird in den kommenden Monaten und Jahren ein wichtiges Thema bleiben. Angesichts einer Überhitzung der Wirtschaft wird die makroökonomische Stabilisierung zur Hauptaufgabe für die Kommunistische Partei. Nach dem 11. Nationalkongress im Februar wurde ein Sparpaket („Resolution 11“) auf den Weg gebracht.

Eines der Ziele ist die Inflationsbekämpfung. Im Juni 2011 stiegen die Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich um 20,8%. Die Inflation wird durch gestiegene Importkosten, das hohe Kreditwachstum und die aufeinanderfolgenden Abwertungen des Dong angetrieben. Die Währungsabwertungen zielten darauf, das Leistungsbilanzdefizit zu verringern – und hatten einen gewissen Erfolg. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel der Regierung soll durch die Abwertung des Dong unter Beweis gestellt werden und die Glaubwürdigkeit auf den Märkten wiederherstellen, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Grund-lagen in Vietnam untergraben wurde.

Weiterhin hat die Regierung Einschränkungen für die Kreditvergabe und mehrere Zinserhöhungen angeordnet. Eine Straffung der Geldpolitik ist auf kurze Sicht unvermeidlich, um die Inflation wieder in den Griff zu bekommen. Die Inflation bewirkt stetig steigende Lebenshaltungskosten, weshalb Arbeiter mittels häufiger Streiks weiterhin Lohnerhöhungen fordern.

Das Misstrauen der Märkte nahm allerdings zu, als die Regierung entschied, die Verbindlichkeiten des Vinashin-Konglomerats, eines der größten Unternehmen in Staatsbesitz, umzuschulden. Vinashins Überschuldung aber ist eine Folge der vietnamesischen Wirtschaftsstruktur, die durch den Staat dominiert wird und von günstigen Krediten für Staatsunternehmen, Misswirtschaft und mangelnder Transparenz gekennzeichnet ist. Dies wirkt sich negativ auf Vietnams wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus, auch wenn einige rentable Privatunternehmen dies zum Teil kompensieren.

Die Privatunternehmen leiden jedoch unter teuren Krediten. In diesem Zusammenhang hat die Regierung angekündigt, dass die Privatisierung von Unternehmen in Staatsbesitz fortgeführt werden soll, um das Management und die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen zu verbessern. Die Regierung wird jedoch an ihren Mehrheitsbeteiligungen festhalten. Bisher gibt es keine klaren Anzeichen dafür, dass der Widerstand gegen die Reform der staatseigenen Unternehmen überwunden werden kann, da Regierungsbeamte andere Interessen an den Unternehmen haben.

Ein weiteres dringendes Problem ist der Mangel an Devisenreserven. Trotz höherer Exporte und ausländischer Direktinvestitionen decken die Devisenreserven nur die Importe von zwei Monaten, ein sehr niedriger Wert. Dies hat mit dem Misstrauen der Wirtschaftsakteure gegenüber dem Dong und ihrer Reaktion auf den Inflationsdruck zu tun: Devisen werden gehortet und so dem Finanzsystem entzogen.

In letzter Zeit ist es der Regierung gelungen, das Vertrauen in den Dong teilweise wiederherzustellen und den Schwarzmarkthandel zu verringern. Dadurch konnte die Währung einigermaßen stabilisiert und der Zugang zu US-Dollar verbessert werden. Der Verkauf staatlicher Unternehmen durch die Regierung könnte ebenfalls zum Aufbau von Devisenreserven beitragen.

In den letzten Jahren hat sich die Lage auf dem vietnamesischen Finanzmarkt als Folge des hohen Kreditwachstums verschlechtert. Nach IFRS-Kriterien würde das für mehrere Banken einen hohen Anteil notleidender Kredite bedeuten: etwa 8 bis 10% der gesamten Kreditsumme. Darüber hinaus könnten sich die Stabilisierungsmaßnahmen durch ein verringertes Wirtschaftswachstum und Zinserhöhungen negativ auf den Bankensektor auswirken.

Aufgrund der mangelnden Transparenz ist es allerdings schwierig, die Bonität der Staatsbanken und staatseigenen Unternehmen zu beurteilen, so dass sich Konsolidierung und Rekapitalisierung der Branche sehr bald als notwendig erweisen könnten. Der Anstieg der Eventualverbindlichkeiten von Staatsbanken und Staatsunternehmen könnte Vietnams Finanzlage erheblich schwächen und erfordert deshalb mittelfristig eine weitgehende Haushaltskonsolidierung mit begleitenden Sparmaßnahmen.

Die langfristigen Wirtschaftsaussichten für Vietnam bleiben positiv, vor allem dank der jungen erwerbstätigen Bevölkerung, der niedrigen Produktionskosten und des dynamischen Binnenmarkts. Doch die Frage, ob das erschütterte Vertrauen der Anleger vollständig wiederhergestellt werden kann, wird von der Umsetzung der Resolution 11 und der Entwicklung der Risiken im Finanzsektor abhängen.

Kontakt: c.witte[at]delcredere.eu

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